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15.12.2014

Natürliche Betrachtungsweise bei verkehrsberuhigten Bereichen und Fußgängerzonen: Zerfall in selbständige Anlagen?

Die Frage, ob eine einzelne Erschließungsanlage vorliegt oder ob gegebenenfalls Teillängen der Anlage als selbständige Erschließungsanlagen zu gelten haben, ist für die Festsetzung der Erschließungsbeiträge von herausragender Bedeutung. Die sog. natürliche Betrachtungsweise ist derzeit in der Rechtsprechung nicht nur ein häufiges Thema, sondern auch ein „heißes Eisen“.

Die natürliche Betrachtungsweise:

Die Frage, ob eine einzelne Erschließungsanlage vorliegt oder ob gegebenenfalls Teillängen der Anlage als selbständige Erschließungsanlagen zu gelten haben, ist für die Festsetzung der Erschließungsbeiträge von herausragender Bedeutung, so z.B. für das Entstehen der sachlichen Beitragspflicht (§ 133 Abs. 2 BauGB), für den Beginn der Festsetzungsverjährungsfrist (§ 170 Abs. 1 AO) oder die Bestimmung des Kreises der erschlossenen Grundstücke ( § 131 Abs. 1 BauGB). Nach der Rechtsprechung ist diese Frage in Anwendung der „natürlichen Betrachtungsweise“ zu beantworten (ständige Rechtsprechung der Obergerichte). Der ausschlaggebende Gesamteindruck hat sich an der Straßenführung, der Straßenlänge, der Straßenbreite und der Straßenausstattung auszurichten. Von dieser natürlichen Betrachtungsweise ist aber in bestimmten Fällen aus Rechtsgründen eine Ausnahme zu machen – z.B. dann, wenn eine zum Anbau bestimmte Straße verlängert wird, nachdem sie bereits endgültig hergestellt und die sachliche Beitragspflicht entstanden war (§ 133 Abs. 2 BauGB); in diesem Fall ist die Verlängerung als weitere, also zusätzliche Erschließungsanlage i.S.d. § 127 Abs. 2 Nr. 1 BauGB zu werten. Aus rechtlichen Gründen „zerfällt“ die sich in der Natur als eine einheitliche Anlage darstellende Straße in zwei selbständige Anlagen.

 

Der Fall:

Dem Beschluss des Obergerichts lag als Sachverhalt die Erhebung einer Vorausleistung auf den Erschließungsbeitrag für die erstmalige Herstellung einer Anlage zugrunde, deren Teilstrecken nach den Festsetzungen des Bebauungsplans keine einheitliche Funktion zukommt.  Während der südliche Teil als „öffentliche Verkehrsfläche besonderer Zweckbestimmung“ mit der Maßgabe „nur für Fußgänger, Radfahrer, Anwohner, Feuerwehr, Ver- und Entsorgungsfahrzeuge freigegeben“ ausgewiesen ist, bestimmt der Bebauungsplan für den nördlichen Teil „öffentliche Straße verkehrsberuhigt“. Es stellte sich die Frage, ob solche Teilstrecken in Durchbrechung der natürlichen Betrachtungsweise aus Rechtsgründen in selbständige Anlagen zerfallen.

In dem von einem Beitragspflichtigen angestrengten gerichtlichen  Eilverfahren nach § 80 Abs. 5 VwGO kam das erstinstanzlich zuständige Verwaltungsgericht zu dem Ergebnis, dass die Gemeinde bei der Berechnung der Vorausleistung auf den Erschließungsbeitrag von einem unzutreffenden Umfang der abzurechnenden Erschließungsanlage ausgegangen sei. Dies ergebe sich aus der unterschiedlichen Erschließungsfunktion, die den beiden Teilstücken aufgrund der jeweiligen Festsetzungen im Bebauungsplan zukomme. Das Obergericht wurde angerufen.

 

Die obergerichtliche Entscheidung:

Der Grundsatz: Maßgeblich ist, ob sich die Straße als augenfällig eigenständiges Element des Straßennetzes darstellt.

 „Wie weit eine einzelne Anbaustraße reicht und wo eine andere Verkehrsanlage beginnt, bestimmt sich nach dem Gesamteindruck, den die jeweiligen tatsächlichen Verhältnisse einem unbefangenen Beobachter vermitteln. Zu fragen ist dabei, inwieweit sich die zu beurteilende Straße als augenfällig eigenständiges Element des örtlichen Straßennetzes darstellt. Deshalb hat sich der ausschlaggebende Gesamteindruck nicht an Straßennamen, Grundstücksgrenzen oder dem zeitlichen Ablauf von Planung und Bauausführung auszurichten, sondern, ausgehend von einer natürlichen Betrachtungsweise, an der Straßenführung, der Straßenlänge, der Straßenbreite und der Straßenausstattung (...). Zugrunde zu legen ist dabei der Zustand im Zeitpunkt des Entstehens der sachlichen Beitragspflichten, also nach Durchführung der Herstellungsmaßnahme. Bei der – hier in Streit stehenden – Erhebung einer Vorausleistung auf den Erschließungsbeitrag nach § 133 Abs. 3 Satz 1 BauGB, die begrifflich immer vor dem Entstehen der endgültigen sachlichen Beitragspflichten erfolgt, ist demnach prognostisch nach der Erkenntnislage im Zeitpunkt der (letzten) Behördenentscheidung zu bewerten, wie die Anbaustraße sich nach vollständiger Umsetzung des gemeindlichen Bauprogramms insbesondere im Verhältnis zu den sich anschließenden Straßen darstellen wird.“

 

Erfüllt die Verkehrsanlage mit Blick auf die unterschiedlichen Festsetzungen im Bebauungsplan die bestimmungsgemäße Erschließungsfunktion einer zum Anbau bestimmten Straße auf die gesamte Länge? Der Inhalt der straßenrechtlichen Widmung gibt Auskunft.

„Eine Aufspaltung ist entgegen der Sichtweise des Verwaltungsgerichts … nicht in Durchbrechung der natürlichen Betrachtungsweise aus Rechtsgründen geboten. Die Verkehrsanlage erfüllt auf ihrer gesamten Länge auch mit Blick auf die unterschiedlichen Festsetzungen im Bebauungsplan die bestimmungsgemäße Erschließungsfunktion einer zum Anbau bestimmten Straße im Sinn des § 127 Abs. 2 Nr. 1 BauGB. Denn sie ist in tatsächlicher wie auch in rechtlicher Hinsicht durchgehend in ausreichendem Umfang befahrbar, um die Erreichbarkeitsanforderungen zu erfüllen, die das Baurecht an die Bebaubarkeit eines Grundstücks im Sinn von § 133 Abs. 1 BauGB stellt … Rechtlich reicht es aus, wenn die Widmung zumindest einen eingeschränkten Fahrzeugverkehr gestattet, wie das in der Regel bei befahrbaren verkehrsberuhigten Wohnstraßen der Fall ist …), aber auch bei einer Fußgängerzone, die nach der Widmungsverfügung nicht nur dem öffentlichen Fußgänger- und Radfahrerverkehr offen steht, sondern mit Kraftfahrzeugen aller Art befahren werden darf "von den Anliegern, den Besuchern und amtlichen Organen zum Be- und Entladen der Fahrzeuge (einschließlich Tank-, Möbel-, Krankenwagen usw.) sowie Katastrophen-, Not- und ähnlichen Fällen besonderen öffentlichen Interesses" (BVerwG …). Einem solchen beschränkten öffentlichen Kraftfahrzeugverkehr, der für die verkehrsmäßige Erschließung der Anliegergrundstücke ausreicht, steht es demnach nicht entgegen, dass der Bebauungsplan die Fläche der südlichen Teilstrecke als „öffentliche Verkehrsfläche besonderer Zweckbestimmung“ mit der Maßgabe „nur für Fußgänger, Radfahrer, Anwohner, Feuerwehr, Ver- und Entsorgungsfahrzeuge freigegeben“ festsetzt. Ist die Verbindungsstraße demnach insgesamt gerade mit Blick auf diese planerischen Festsetzungen auf ihrer gesamten Strecke zum Anbau bestimmt, besteht kein Grund für eine Aufspaltung in zwei Erschließungsanlagen.“

 

 

Alternative:  Bildung von Abrechnungsabschnitten i.S.v. § 130 Abs. 2 Satz 2 BauGB ? Um eine Teilstrecke als Abschnitt abrechnungsmäßig zu verselbstständigen, muss diese eine eigenständige Bedeutung als Verkehrsanlage haben

 „Ist aus diesen Gründen davon auszugehen, dass die Verbindungsstraße in ihrer gesamten Ausdehnung eine einzige Erschließungsanlage darstellt, gibt sie nach § 130 Abs. 2 Satz 1 BauGB den maßgeblichen Ermittlungsraum und ein entsprechendes Abrechnungsgebiet vor. Abrechnungsabschnitte hat die Antragsgegnerin unstreitig nicht gebildet. Wie das Verwaltungsgericht zu Recht ausgeführt hat, lägen im Übrigen die Voraussetzungen des § 130 Abs. 2 Satz 2 BauGB für eine Abschnittsbildung etwa am Übergang von der südlichen Teilstrecke zur Wendefläche nicht vor. Denn um eine Teilstrecke als Abschnitt abrechnungsmäßig zu verselbstständigen, muss diese grundsätzlich eine gewisse eigenständige Bedeutung als Verkehrsanlage haben, weil ansonsten eine dem Erschließungsbeitragsrecht fremde Atomisierung des Begriffs der beitragsfähigen Erschließungsanlage eintreten würde; einer lediglich 50 m langen Teilstrecke würde es in jedem Fall an der erforderlichen eigenständigen Bedeutung fehlen (vgl. BayVGH …).“

 

Unsere Hinweise:

Die Daten der vorgestellten obergerichtlichen Entscheidung finden sie in unseren Tipps für die Praxis. In Ihrem Matloch/Wiens finden Sie zum maßgeblichen Thema umfangreiche Erläuterungen bei Rdnrn. 701 ff. – dazu die einschlägige Rechtsprechung sowie eine große Zahl von Fallbeispielen.


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