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18.05.2015

Ablösungsvertrag: Die Missbilligungsgrenze

Das durch Art. 3 Abs. 1 GG unterstützte Gebot der Abgabengerechtigkeit trägt eine absolute Missbilligungsgrenze ebenfalls nicht.

Der Ablösungsvertrag:

Die Beitragspflicht des Grundstückseigentümers entsteht gemäß § 133 Abs. 2 Satz 1 BauGB mit der endgültigen Herstellung der Erschließungsanlage. Die Erschließung ist damit grundsätzlich von der Gemeinde vorzufinanzieren. Als Ausnahme von dem gesetzlichen Verbot vertraglicher Vereinbarungen über Erschließungskosten eröffnet § 133 Abs. 3 Satz 5 BauGB den Gemeinden die Möglichkeit, mit dem Grundstückseigentümer vor Entstehung der Beitragspflicht einen öffentlich-rechtlichen Vertrag über die Ablösung des gesamten Erschließungsbeitrags zu schließen. Mit der Ablösung wird eine abschließende vertragliche Regelung über die Belastung des Grundstücks mit Erschließungskosten getroffen; die Ablösung ist mithin endgültiger Natur. Da Ablösungsverträge bereits vor Entstehen der Beitragspflicht geschlossen werden, sind mit ihnen erhebliche Risiken verbunden. Zu den ablösungstypischen Risiken gehört es, dass der vereinbarte Ablösungsbetrag geringer oder höher ausfallen kann als der später errechnete Erschließungsbeitrag. Die Realisierung eines solchen ablösungstypischen Risikos hat keinen Einfluss auf die Wirksamkeit des Ablösungsvertrages. Der 8. Senat des BVerwG hat jedoch bereits im Jahr 1990 entschieden, dass das Erschließungsbeitragsrecht einem Ablösungsvertrag eine absolute Missbilligungsgrenze setzt, wenn sich im Rahmen einer später von der Gemeinde durchgeführten Beitragsabrechnung herausstellt, dass der dem Grundstück zuzuordnende Erschießungsbeitrag das Doppelte oder mehr als das Doppelte bzw. die Hälfte oder weniger als die Hälfte des vereinbarten Ablösungsbetrags ausmacht. Diese Rechtsprechung hat das BVerwG in der vorgestellten Entscheidung nun aufgegeben.

 

Der Fall:

In dem der Entscheidung des BVerwG zugrunde liegenden Fall wendet sich der Kläger, Eigentümer eines Grundstücks, welches an die M-Straße (bestehend aus Hauptzug und Stichstraße) angrenzt, gegen die Heranziehung zu Erschließungsbeiträgen durch die beklagte Gemeinde. Die M-Straße wurde in den Jahren 1970/1971 als Baustraße angelegt. Im Zuge eines vom Kläger eingeleiteten Baugenehmigungsverfahrens zur Errichtung eines Wohngebäudes schloss er mit der Beklagten einen Ablösungsvertrag. Darin verpflichtete sich der Kläger zur Zahlung der auf sein Grundstück entfallenden anteiligen Kosten des Ausbaus der Erschließungsanlagen als Vorausleistung auf den später entstehenden Erschließungsbeitrag. Die Beteiligten vereinbarten, dass die Vorausleistung gemäß § 133 Abs. 3 Satz 2 BBauG (heute: § 133 Abs. 3 Satz 5 BauGB) den für das Grundstück nach der Herstellung der Erschließungsanlagen zu zahlenden Erschließungsbeitrag endgültig tilgen solle. Ein Anspruch des Klägers, den Ausbau der Erschließungsanlage zu einem bestimmten Zeitpunkt zu verlangen, wurde ausdrücklich ausgeschlossen. Die Beklagte veranschlagte den beitrags- und umlagefähigen Gesamtaufwand auf 261.272,47 DM. Den auf den Kläger entfallenden Betrag in Höhe von 3.594,33 DM zahlte dieser nachfolgend.

Im Jahr 2007 wurde die M-Straße endgültig hergestellt und im Februar 2012 dem öffentlichen Verkehr gewidmet. Den umlagefähigen Erschließungsaufwand ermittelte die Beklagte mit 277.939,35 € (Hauptzug) und 129.232,80 € (Stichstraße). Nach Anhörung des Klägers zog ihn die Beklagte mit Bescheid vom 23.08.2012 zu einem Erschließungsbeitrag in Höhe von 8.003,58 € heran und setzte die noch zu erbringende Zahlung unter Anrechnung der Ablösungssumme in Höhe von umgerechnet 1.837,75 € auf 6.165,83 € fest. Begründet wurde die Nacherhebung mit dem Überschreiten der sog. Missbilligungsgrenze. Das Verwaltungsgericht hat den Bescheid mit Urteil vom 28.11.2013 aufgehoben. Über die vom Verwaltungsgericht zugelassene Sprungrevision der Beklagten hatte das BVerwG zu entscheiden.

 

Das Urteil des BVerwG:

Es existiert keine absolute Missbilligungsgrenze, welche überschritten wäre, wenn der Betrag, der dem Grundstück als Erschließungsbeitrag zuzuordnen wäre, mindestens das Doppelte oder höchstens die Hälfte des vereinbarten Ablösungsbetrags ausmacht.

Das BVerwG geht in seiner Entscheidung zunächst auf die bisherige Rechtsprechung des 8. Senats zur sog. Missbilligungsgrenze ein. Sodann stellt das Gericht klar, dass es an dieser Rechtsprechung nicht mehr festhält. Eine absolute, von der Ursache des Auseinanderfallens von Ablösungsbetrag und Erschließungsbeitrag unabhängige Grenze sei dem Gesetz nicht zu entnehmen. Sie lasse sich auch nicht mit dem "Wesen" des Ablösungsbetrags als "vorgezogener" Erschließungsbeitrag und der Einbettung des Ablösungsvertrags in das Reglungssystem des gesetzlichen Erschließungsbeitragsrechts begründen. Die Annahme, die aus § 127 Abs. 1 BauGB ableitbare Pflicht zur möglichst umfassenden Abwälzung der für die Herstellung von beitragsfähigen Erschließungsanlagen entstandenen Kosten auf die Grundstückseigentümer zwinge zur Annahme einer absoluten Missbilligungsgrenze, berücksichtige nicht hinreichend, dass der Gesetzgeber selbst mit § 133 Abs. 3 Satz 5 BauGB eine Ausnahme von der Pflicht zur Beitragserhebung ermögliche, und zwar in Kenntnis des mit dieser Vertragsgestaltung geradezu typischerweise verbundenen Risikos einer – auch erheblichen – Abweichung der vertraglich vereinbarten Beträge von den ohne die Ablösung auf das Grundstück entfallenden Erschließungsbeiträgen. Hätte der Gesetzgeber der Fortgeltung eines Ablösungsvertrags eine spezifisch erschließungsbeitragsrechtliche und dazu noch "absolute" Grenze setzten wollen, hätte er dies durch eine entsprechende Regelung zum Ausdruck bringen müssen. Das Fehlen einer solchen gesetzlichen Regelung könne nicht durch eine aus dem allgemeinen Regelungssystem des gesetzlichen Erschließungsbeitragsrechts abgeleitete und zudem noch gegriffene richterrechtliche Missbilligungsgrenze überspielt werden. Dies gelte umso mehr, als die gesetzliche Konzeption des Ablösungsvertrags dazu führe, dass mit Abschluss eines solchen Vertrags und der Entrichtung des Ablösungsbetrags durch den Grundeigentümer für das betroffene Grundstück das beitragsrechtliche Rechtsregime erst gar nicht zum Entstehen gelange. Hinzu komme, dass die Pflicht der Gemeinde zur Beitragserhebung nach § 127 Abs. 1, § 129 Abs. 1 Satz 3 BauGB für die gemeindliche Beteiligung an den Erschließungskosten nur eine Mindest-, nicht jedoch eine Höchstgrenze festsetze; der gemeindliche Anteil könne daher mehr als 10 v.H. des beitragsfähigen Erschließungsaufwands betragen.

Das durch Art. 3 Abs. 1 GG unterstützte Gebot der Abgabengerechtigkeit trage eine absolute Missbilligungsgrenze ebenfalls nicht. Zum einen lägen schon keine vergleichbaren Sachverhalte vor, wenn im einen Fall der Grundstückseigentümer im Wege der Ablösungsvereinbarung den Bau der Anlage unter Umständen über viele Jahre oder – wie hier – sogar Jahrzehnte hinweg vorfinanziere, während sich im anderen Fall der Eigentümer eines vergleichbar großen Grundstücks erst im Nachhinein im Beitragswege an der Finanzierung beteilige. Zum anderen würde eine absolute Missbilligungsgrenze auch dann Anwendung finden, wenn – wie es durchaus nicht selten der Fall sein werde – alle oder die Mehrzahl der Grundstückseigentümer eines Baugebiets Ablösungsverträge abgeschlossen hätten, es also nicht oder nicht in großem Umfang dazu käme, dass gleich große Grundstücke eines Abrechnungsgebiets trotz gleich großen Erschließungsvorteils unterschiedlich belastet würden. Die Freiwilligkeit der vertraglichen Regelung unterscheide die Ablösungsvereinbarung schließlich auch von dem Vorfinanzierungsinstitut der Vorausleistung, das zudem in § 133 Abs. 3 Satz 1 bis 4 BauGB eine Reihe von Schutzregelungen zugunsten des Vorausleistungspflichtigen kenne.

Gerade das vorliegende Verfahren zeige, dass die Annahme einer absoluten Wirksamkeitsgrenze zu unbilligen Ergebnissen führen könne. Mit ihr solle Fällen Rechnung getragen werden, in denen der vereinbarte Ablösungsbetrag den durch ihn ersetzten Erschließungsbeitrag mehr oder weniger total verfehle. Von einer solchen totalen Verfehlung könne jedoch keine Rede sein, wenn das erhebliche Auseinanderfallen – wie hier – allein oder weit überwiegend auf einer durch sachliche Gründe nicht gerechtfertigten Verzögerung der Herstellung der Erschließungsanlage und der dadurch eingetretenen Preissteigerung beruhe.

Die Grenze, bis zu der ein Auseinanderfallen von Ablösungsbetrag und Erschließungsbeitrag hinzunehmen ist, bestimmt sich im Einzelfall nach den Grundsätzen über den Wegfall der Geschäftsgrundlage anhand einer Abwägung aller sich im Zusammenhang mit Ablösungsverträgen ergebenden Umständen und gegenläufigen Interessen.

Dazu führt das BVerwG aus, dass die Rechtsordnung über die Grundsätze über den Wegfall der Geschäftsgrundlage es auch ohne Heranziehung einer absoluten Missbilligungsgrenze ermögliche, Abweichungen zwischen dem Erschließungsbeitrag und der vereinbarten Ablösung eine Grenze zu ziehen. Bei der Bestimmung dieser Grenze könne so den jeweiligen Umständen des Einzelfalles Rechnung getragen werden. Ein sich danach möglicherweise ergebendes Nacherhebungsrecht könne die Gemeinde indes nicht unmittelbar durch Erschließungsbeitrag durchsetzen. Vielmehr bedürfe es der Geltendmachung des Anpassungsverlangens – ggf. im Wege der auf Vertragsanpassung gerichteten Leistungsklage – oder des Rücktritts vom Ablösungsvertrag.

Voraussetzung für einen Wegfall der Geschäftsgrundlage sei allerdings ein ‌– zudem unzumutbares – Überschreiten des Risikorahmens, den die Partei, die eine Anpassung des Vertrags begehrt oder von ihm zurücktreten will, mit dem Vertragsschluss übernommen habe. Eine bloße Realisierung des vertraglich übernommenen Risikos hingegen lasse die Wirksamkeit des Vertrags ebenso unberührt wie der Umstand, dass eine Vertragspartei nach ihrer gegenwärtigen Interessenlage in den Vertragsschluss vernünftigerweise jetzt nicht mehr einwilligen würde. Vielmehr müsse die Änderung der für den Vertragsinhalt maßgeblichen tatsächlichen oder rechtlichen Verhältnisse zu schwerwiegenden, bei Vertragsschluss nicht absehbaren Nachteilen für die Vertragspartei geführt haben, denen die Vertragspartner bei Kenntnis der Entwicklung billigerweise Rechnung getragen hätten. Mehrkosten der endgültigen Herstellung einer Erschließungsanlage, die – wie vorliegend – allein oder weit überwiegend inflationsbedingt seien, ließen danach als ablösungstypische Risiken die Geschäftsgrundlage eines Ablösungsvertrags grundsätzlich unberührt. Sie unterfielen einseitig dem Risikobereich der Gemeinde, welche es zudem in der Hand habe, mit dem Zeitpunkt der Fertigstellung auch darüber zu entscheiden, inwiefern die eingenommenen Ablösungsbeträge die Erschließungskosten abdecken.

Abschließend stellt das BVerwG klar, dass es auch für Konstellationen, in denen aus anderen, nicht preissteigerungsbedingten Gründen in Einzelfällen ein nicht mehr tolerierbares Missverhältnis zwischen der Belastung eines Grundstücks mit Erschließungskosten und dem ihm vermittelten Vorteil bestehen sollte, keiner absoluten Grenze bedarf. Ob sich derartige Mehrkosten innerhalb des Rahmens der ablösungstypischen Risiken halten oder die Geschäftsgrundlage des Ablösungsvertrags berühren, sei ebenfalls anhand einer Abwägung aller Umstände und Interessen des Einzelfalls festzustellen. Auch insoweit sei allerdings die dem Ablösungsvertrag immanente Unsicherheit über die Höhe des Erschließungsaufwands und das damit einhergehende Risiko eines Auseinanderfallens von Ablösungsbetrag und Erschließungsbeitrag zu berücksichtigen. Eine Kostensteigerung, die den Betrag, der dem betroffenen Grundstück als Erschließungsbeitrag zuzuordnen sei, auf weniger als das Doppelte des vereinbarten Ablösungsbetrags anhebe, vermöge sich daher auch dann, wenn sie ausstattungsbedingt sei, in der Regel nicht auf die vertragliche Bindung auszuwirken.

 

Unsere Hinweise:

Die Daten der vorgestellten Entscheidung finden Sie in unseren Tipps für die Praxis.

In Ihrem Matloch/Wiens finden Sie unter den RdNrn. 1510 ff. nähere Erläuterungen zum Ablösungsvertrag.


Unsere Tipps für die Praxis:

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