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10.01.2022

Wiederaufgreifen eines rechtswidrigen, aber bestandskräftigen Beitragsbescheids

Der Fall:

Die beitragsberechtigte Behörde veranlagte den (späteren) Kläger zu einem Beitrag in Höhe von … . Der Kläger erhob keinen Widerspruch. Mit weiterem Bescheid vom … setzte die Behörde einen weiteren Beitrag in Höhe von … fest, wobei der zuvor festgesetzte Beitrag verrechnet wurde und das Leistungsgebot entsprechend begrenzt wurde.

Gegen den Bescheid erhob der Kläger erfolglos Widerspruch. Trotz ordnungsgemäßer Rechtsbehelfsbelehrung erhob er keine Klage. Gleichwohl beantragte der Bevollmächtigte des Klägers die Aussetzung der Vollziehung, bleib damit aber erfolglos. Zugleich beantragte er bei der Behörde die Aufhebung des gegenständlichen Beitragsbescheids.

Die Behörde lehnte mit Bescheid diesen Antrag sowie die Rückzahlung des zwischenzeitlich gezahlten Beitrages ab. Sie begründete das damit, dass auf der Grundlage des gemäß landesrechtlicher Vorschrift anwendbaren § 130 Abgabenordnung (AO) als Ergebnis einer umfassenden Ermessensentscheidung Überwiegendes für die Beibehaltung des Abgabenbescheides spräche. Zu Gunsten des Klägers sei trotz Zweifeln unterstellt worden, dass der angegriffene Bescheid im Hinblick auf die Entscheidung des Bundesverfassungsgerichtes im Beschluss vom 12. November 2015 – 1 BvR 2961/14 und 3051/13 – rechtswidrig sei. Der Beklagte habe im Zuge der beantragten Aufhebung zwischen der Gerechtigkeit im Einzelfall und dem Interesse der Allgemeinheit an Rechtssicherheit und Rechtsfrieden abzuwägen. Zwar greife die Belastung eines Abgabenpflichtigen in sein Eigentumsrecht ein. Andererseits bedürfe es zur Refinanzierung der vollständig vorfinanzierten Anlage der Sicherstellung des Abgabenaufkommens. Ferner sei der Beitragsbescheid bestandskräftig geworden. Bei der Anwendung des § 130 AO sei zu beachten, dass die Einhaltung der Ausschlussfristen für die Erhebung von Rechtsbehelfen nicht unterlaufen werde. Die Rechtsinstitute der Bestandskraft, des Vertrauensschutzes des Bürgers und der Verjährungsvorschriften dienten der Rechtssicherheit und dem Rechtsfrieden. Wie ein Abgabenpflichtiger darauf vertrauen könne, ab einem bestimmten Zeitpunkt oder einem bestimmten Ereignis nicht mehr zu einer bestimmten Abgabe herangezogen zu werden, bedürfe auch die Behörde gerade bei der Refinanzierung einer zum Vorteil des Abgabenpflichtigen erbrachten öffentlichen Aufgabe einer gewissen Rechtssicherheit. Nur so könne der laufende Aufwand und könnten auch die notwendigen Investitionen geplant und finanziell gesichert werden.

Gegen den Bescheid erhob der Kläger Widerspruch, den er damit begründete, dass im Rahmen der Anwendung des § 130 AO von einer Ermessensreduzierung auf Null auszugehen sei, denn die Aufrechterhaltung des bestehenden rechtswidrigen Beitragsbescheides sei unerträglich. Die neuere Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichtes werde dadurch unterlaufen. Die eingetretene Bestandskraft könne nicht als Rechtfertigungsgrund für die Aufrechterhaltung des Bescheides dienen. Die Frage, ob Widerspruch eingelegt worden sei oder ob der Betroffene auf die Geltendmachung seiner Rechte verzichtet habe, könne keine Rolle spielen. Eine entsprechende Unterscheidung verstoße gegen das Willkürverbot.

 

Die höchstrichterliche Entscheidung:

 

Die Klage blieb erfolglos

„Dem Kläger steht kein Anspruch auf Rücknahme des nach Ablauf der Klagefrist bestandskräftig gewordenen Beitragsbescheides vom 16. Dezember 2011 in Gestalt des Widerspruchsbescheides vom 30. Mai 2012 zu. Rechtsgrundlage dafür wäre (die landesrechtliche Vorschrift) in Verbindung mit § 130 Abs. 1 Abgabenordnung (AO). Danach kann ein rechtswidriger Verwaltungsakt, auch nachdem er unanfechtbar geworden ist, ganz oder teilweise mit Wirkung für die Zukunft oder für die Vergangenheit zurückgenommen werden. Die Voraussetzungen sind hier nicht gegeben, denn selbst bei unterstellter Rechtswidrigkeit des Beitragsbescheides vom … in Gestalt des Widerspruchsbescheides vom … ist das … durch § 130 AO eingeräumte Rücknahmeermessen nicht dergestalt reduziert, dass allein die Rücknahme des Bescheides ermessensfehlerfrei ist.“

 

Die Rechtsprechung des BVerfG

„Nach der ständigen Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts, der das Bundesverwaltungsgericht gefolgt ist, ist dem Grundgesetz keine allgemeine Verpflichtung der vollziehenden Gewalt zu entnehmen, rechts- oder verfassungswidrige belastende Verwaltungsakte unbeschadet des Eintritts ihrer Bestandskraft von Amts wegen oder auf Antrag des Adressaten aufzuheben. Dies gilt auch für bestandskräftige Verwaltungsakte, deren Rechtsgrundlage gegen Verfassungsrecht verstößt oder die auf der verfassungswidrigen Anwendung einer gültigen Rechtsnorm beruhen (BVerfG, Beschluss vom 11. Oktober 1966 - 1 BvR 164/64 …).“

„Dabei findet diese Rechtsprechung trotz der Bindung der öffentlichen Gewalt an die verfassungsmäßige Ordnung (Art. 20 Abs. 3 GG) und die Grundrechte (Art. 1 Abs. 3 GG) insbesondere auch dann Anwendung, wenn die Verfassungswidrigkeit oder verfassungswidrige Anwendung der Rechtsnorm, auf die ein bestandskräftiger Verwaltungsakt gestützt ist, auf ihrer Grundrechtswidrigkeit beruht (BVerfG, Beschluss vom 11. Oktober 1966 - 1 BvR 164/64 …). Verfassungsrechtlich gerechtfertigt ist dies im Hinblick auf den im Rechtsstaatsprinzip des Art. 20 Abs. 3 GG verankerten Grundsatz der Rechtssicherheit, dem der Gesetzgeber jedenfalls grundsätzlich den Vorrang vor dem Prinzip der Gerechtigkeit im Einzelfall auch dann einräumen darf, wenn infolgedessen die Durchsetzung eines Grundrechts in abgeschlossenen Verfahren nicht mehr möglich ist (BVerfG, Beschlüsse vom 12. Dezember 1957 - 1 BvR 678/57 - BVerfGE 7, 194 <195 f.> und vom 11. Oktober 1966 - 1 BvR 164/64, 1 BvR 178/64 - BVerfGE 20, 230 <235>). Denn selbst die Einschränkung von vorbehaltlos gewährleisteten Grundrechten kann nach ständiger Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts durch Grundrechte Dritter und andere mit Verfassungsrang ausgestattete Rechte und Rechtswerte verfassungsrechtlich gerechtfertigt sein (vgl. etwa BVerfG, Beschlüsse vom 26. Mai 1970 - 1 BvR 83/69 u.a. - BVerfGE 28, 243 <260 f.> und vom 26. Juni 1991 - 1 BvR 779/85 - BVerfGE 84, 212 <228>).“

 

Keine zwingende Rücknahmeverpflichtung

„Dass rechts- oder verfassungswidrige Verwaltungsakte nicht zwingend zurückgenommen werden müssen, gilt auch für die Fälle, in denen die Rücknahme solcher Verwaltungsakte wie in § 48 Abs. 1 VwVfG und (landesrechtliche Vorschrift) in Verbindung mit § 130 Abs. 1 AO in das Ermessen der Behörde gestellt ist. Denn sowohl das Bundesverfassungsgericht als auch das Bundesverwaltungsgericht haben in solchen Fällen unter Berufung auf diese Rechtsprechung eine Ermessensreduktion auf Null allein wegen der Grundrechts- oder Verfassungswidrigkeit eines bestandskräftigen Verwaltungsakts verneint (BVerfG, Kammerbeschluss vom 30. Januar 2008 - 1 BvR 943/07 - NVwZ 2008, 550 <551>; BVerwG, Urteil vom 24. Februar 2011 - 2 C 50.09 - Buchholz 316 § 51 VwVfG Nr. 58 Rn. 11 ff., 14, jeweils zu § 48 VwVfG).

Auf der Grundlage dieser Rechtsprechung lässt sich die vom Kläger aufgeworfene Frage also ohne Weiteres dahingehend beantworten, dass die Bindung der öffentlichen Gewalt an die verfassungsmäßige Ordnung (Art. 20 Abs. 3 GG) und die Grundrechte (Art. 1 Abs. 3 GG) nicht dazu führt, dass das einer Behörde durch eine Regelung über die Rücknahme von Verwaltungsakten wie § 12 Abs. 1 Nr. 3 Buchst. b KAG BB in Verbindung mit § 130 Abs. 1 AO eingeräumte Ermessen allein deshalb auf Null reduziert ist, weil der zurückzunehmende Bescheid verfassungs- oder grundrechtswidrig ist.“

 

Unsere Hinweise:

Bei den in Klammern gesetzten kursiv dargestellten Inhalten handelt es sich um Anmerkungen des Verfassers zum Zwecke der Verallgemeinerung der in der Entscheidung zitierten landesrechtlichen Vorschrift mit ihrer Verweisung auf die Abgabenordnung (AO).

Die Daten der vorgestellten Entscheidung finden Sie in unseren Tipps für die Praxis. In Ihrem Matloch/Wiens finden Sie die Erläuterungen zum vorgestellten Thema unter Rdnr. 1131a .


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