Die Kläger erhoben gegen die an sie ergangenen Beitragsbescheide für den Ausbau des „Schönen Wegs“ Widerspruch. Zur Begründung trugen sie u.a. vor, der Ausbau des „Schönen Wegs“ in den Jahren 2015/2016 habe nicht zu einer erstmaligen Erschließung ihres Grundstücks geführt. Vielmehr sei dieses bereits seit dem Jahr 1952 mit einem Wohnhaus bebaut und entsprechend bereits vor Jahrzehnten erschlossen worden. In Wahrheit sei die abgerechnete Maßnahme erfolgt, um die leckgeschlagene Gasleitung des kommunalen Versorgungsbetriebs im Bereich des gebildeten Abschnitts zu erneuern.
Ausweislich eines Vermerks aus dem Jahr 1970 sei die Gemeinde selbst davon ausgegangen, dass mit der Anbringung von sieben Auslegerleuchten möglicherweise eine Erschließungsbeitragspflicht entstanden sei. Auch seien 1959 bzw. 1961 Abwasserbeiträge abgerechnet worden. Ein gemeindliches Bauprogramm für den „Schönen Weg“ lasse sich, wovon auch die Gemeindeprüfungsanstalt ausgehe, aus dem faktisch geschaffenen, zu einem gewissen Abschluss gekommenen und jahrzehntelang unveränderten Herstellungszustand entnehmen. Der Beitragserhebung stehe zudem der Einwand der Verwirkung entgegen.
Das erstinstanzlich zuständige Verwaltungsgericht war zu dem Ergebnis gelangt, der „Schöne Weg“ sei weder in seiner vollständigen Ausdehnung noch auf einer Teilstrecke eine vor dem Inkrafttreten des Bundesbaugesetzes (d. h. bis zum 29.06.1961) vorhandene und daher beitragsfreie Erschließungsanlage gewesen. Vorliegend sei zwar mit den Festsetzungen in dem am 14.03.1956 genehmigten Ortsbauplan … eine planungsrechtliche Grundlage für einen Teil der Straße gegeben gewesen. „Der Schöne Weg“ sei bis zum Inkrafttreten des Bundesbaugesetzes aber nicht plangemäß hergestellt worden. Die im Ortsbauplan festgesetzte Straßenbreite von (durchgehend) 8,50 m sei vor 1961 und auch später bei Weitem nicht erreicht worden. Die tatsächliche Straßenbreite habe nach den unwidersprochenen Angaben der Gemeinde vor dem Ausbau 2015/2016 bis auf Höhe des Gebäudes Nr. 10 ca. 6,00 m (mit talseitigem Gehweg) und ab dem Gebäude Nr. 12 zwischen 5,00 m und 6,50 m betragen. Den hierzu vorgelegten Aktenbestandteilen sei zu entnehmen, dass die Fahrbahn auch nach der Verbreiterungsmaßnahme 1959 im Mittel nur einen Durchmesser von 4,70 m aufgewiesen habe. „Der Schöne Weg“ sei vor dem Ausbau 2015/2016 nicht den Herstellungsmerkmalen der früheren Erschließungsbeitragssatzungen der Beklagten entsprechend endgültig (technisch) hergestellt worden.
Zugleich habe es ersichtlich an einer fertiggestellten Teileinrichtung Straßenentwässerung gefehlt. Ausweislich der Lichtbilder habe „Der Schöne Weg“ über weite Strecken keine Einlaufschächte aufgewiesen. Auch habe es an einer durchgehenden Straßenrinne oder vergleichbaren Einrichtungen (Gräben/Mulden) gefehlt, die eine Ableitung und Führung des Oberflächenwassers zu etwaig vorhandenen Einlaufschächten hätten ermöglichen und eine Entwässerung der Straße auf die angrenzenden Grundstücke durchgehend hätten verhindern können.
Die jedenfalls nach den Merkmalsregelungen der Erschließungsbeitragssatzungen ab 1967 zusätzlich obligatorischen ausreichenden Beleuchtungseinrichtungen seien im „Schönen Weg“ bis zum Ausbau 2015/2016 ebenfalls nicht (durchgehend) vorhanden gewesen. Den Lichtbildern könne entnommen werden, dass es auf längeren Teilstrecken des Wegs an Straßenlaternen gefehlt habe. Eine merkmalsgerechte Ausleuchtung der gesamten, ca. 2 km langen Erschließungsanlage oder auch nur des hergestellten Abschnitts sei daher trotz der teilweise vorhandenen und in einzelnen Bereichen - auch im Bereich des klägerischen Grundstücks - bereits in den 1960er Jahren im Wege der Kostenspaltung abgerechneten Beleuchtungsanlagen nicht gegeben gewesen.
„Eine Verwirkung erfordert, dass seit der Möglichkeit der Geltendmachung eines Rechts längere Zeit verstrichen ist (Zeitmoment) und dass besondere Umstände hinzutreten, die die verspätete Geltendmachung als treuwidrig erscheinen lassen (Umstandsmoment). Das ist insbesondere dann der Fall, wenn der Verpflichtete infolge eines bestimmten Verhaltens des Berechtigten darauf vertrauen durfte, dass dieser das Recht nach so langer Zeit nicht mehr geltend machen werde (Vertrauensgrundlage), der Verpflichtete ferner tatsächlich darauf vertraut hat, dass das Recht nicht mehr ausgeübt werde (Vertrauenstatbestand) und sich infolgedessen in seinen Vorkehrungen und Maßnahmen so eingerichtet hat, dass ihm durch die verspätete Durchsetzung des Rechts ein unzumutbarer Nachteil entstehen würde (vgl. BVerwG, Urteil vom 20.03.2014 - 4 C 11.13 - BVerwGE 149, 211, juris Rn. 30; VGH Baden-Württemberg, Beschluss vom 09.03.2021 - 2 S 3955/20 - juris Rn. 39 mwN).“
„Diese Voraussetzungen sind im vorliegenden Fall nicht gegeben. Für die Annahme einer Verwirkung fehlt es sowohl an dem Zeitmoment als auch an dem Umstandsmoment. Die Beklagte hatte erst mit der Entstehung der Beitragsschuld aufgrund der streitgegenständlichen Erschließungsmaßnahme überhaupt die Möglichkeit, von den Klägern einen Erschließungsbeitrag zu erheben. Solange eine Erschließungsanlage nicht endgültig hergestellt und die sachliche Beitragspflicht nicht entstanden ist, kommt eine Verwirkung des Beitragserhebungsrechts der Gemeinde nicht in Betracht (vgl. VGH Baden-Württemberg, Urteil vom 22.05.2003 - 2 S 446/02 - juris Rn. 51). Überdies fehlt es an einem entsprechenden Verhalten der Beklagten, das darauf schließen lassen konnte, sie werde die Anlieger nicht mehr zu den Kosten einer Erschließung heranziehen. Die Beklagte hat zu keinem Zeitpunkt den Eindruck erweckt, sie werde ihrer Pflicht (§ 20 Abs. 2 KAG) zur Erhebung eines Erschließungsbeitrags nicht nachkommen. Vielmehr hatte sie der Bank, die den Immobilienerwerb der Kläger finanziert hat, bereits mit Schreiben vom 18.04.2005 mitgeteilt, „Der Schöne Weg“ sei noch nicht endgültig hergestellt worden und sie werde das Grundstück Nr. 30 nach der noch ausstehenden Herstellung der Straße zum Erschließungsbeitrag veranlagen. Schließlich können sich die Kläger auf eine Verwirkung oder sonstigen Vertrauensschutz auch deshalb nicht mit Erfolg berufen, weil sie nicht geltend gemacht haben, im Vertrauen darauf, nicht zu einem Erschließungsbeitrag herangezogen zu werden, schutzwürdige Dispositionen getroffen zu haben.“
Die Daten der vorgestellten obergerichtlichen Entscheidung finden Sie in unseren Tipps für die Praxis. In Ihrem Matloch/Wiens finden Sie ausführliche Erläuterungen zu den Fragen von Vertrauensschutz und Verwirkung bei Rdnrn. 1127 ff.
Die vorgestellte Entscheidung äußert sich außerdem zu Fragen der Abschnittsbildung, der sog. Verjährungshöchstfrist und zum Halbteilungsgrundsatz. Aus Gründen der Übersichtlichkeit haben wir uns hier auf die Vorstellung der angeblichen Verwirkung sowie der zu beachtenden Grundsätze beschränkt.
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