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25.04.2022

Q_2022_04_25_Die von Anfang an rechtswidrige Stundung nach § 135 Abs. 4 BauGB und ihre Folgen

Nach § 135 Abs. 4 BauGB ist ein Erschließungsbeitrag für Grundstücke, die landwirtschaftlich oder als Wald genutzt werden, so lange zinslos zu stunden, wie das Grundstück zur Erhaltung der Wirtschaftlichkeit des landwirtschaftlichen Betriebs genutzt werden muss. Dies gilt auch für die Fälle der Nutzungsüberlassung und Betriebsübergabe an Familienangehörige im Sinne des § 15 der Abgabenordnung. Die zwingende Natur der Vorschrift macht die Anwendung in der Praxis nicht ganz einfach, mit – wie man in diesem Fall sieht – fatalen Folgen im Falle einer Fehleinschätzung.


Der Fall:

Die Klägerinnen sind Eigentümerinnen zweier Grundstücke für die der beklagte Markt am 2. November 2005 einen Erschließungsbeitrag von insgesamt rund 34.000 EUR festgesetzt hat. Gleichzeitig wurde der Beitrag vom Amts wegen nach § 135 Abs. 4 BauGB gestundet, „solange das Grundstück von Ihnen landw. genutzt wird und in Ihrem Eigentum ist. Änderungen sind dem Markt mitzuteilen“ (Zitat aus dem Stundungsbescheid). 2012 erfolgte eine Nachfrage von Seiten des Marktes, ob die Stundungsvoraussetzungen noch vorliegen. Diese wurde von den Klägerinnen bejaht: Die Grundstücke seien nach wie vor landwirtschaftlich vom Cousin der Klägerinnen genutzt; der Pachtvertrag von 1997 sei verlängert worden. Daraufhin widerrief der Markt die Stundung und forderte den Erschließungsbeitrag ein. Die Klägerinnen kamen der Zahlungsforderung 2015 nach. Mit verwaltungsgerichtlicher Klage verlangten sie dann die Rückzahlung des Betrags – inklusive Verzinsung.


Die obergerichtliche Entscheidung:

Die erstinstanzlich entscheidende Kammer des Verwaltungsgerichts gab den Klägerinnen recht und verurteilte den Markt zur Rückzahlung des vereinnahmten Betrags sowie einer Zinszahlung ab dem Tag der Klageerhebung. Das Oberverwaltungsgericht bestätigte die Entscheidung vollumfänglich.


Die Stundungsvoraussetzungen lagen nicht vor.

„Werden Grundstücke landwirtschaftlich oder als Wald genutzt, ist der Beitrag gemäß § 135 Abs. 4 Satz 1 BauGB (hier in der Fassung vom 23.9.2004) so lange zinslos zu stunden, wie das Grundstück zur Erhaltung der Wirtschaftlichkeit des landwirtschaftlichen Betriebs genutzt werden muss. Satz 1 gilt auch für die Fälle der Nutzungsüberlassung und Betriebsübergabe an Familienangehörige im Sinn des § 15 AO (§ 135 Abs. 4 Satz 2 BauGB). Begünstigt wird grundsätzlich nur derjenige Beitragsschuldner, der selbst Landwirtschaft betreibt. Hat er das Grundstück verpachtet oder gar bereits einem Dritten übertragen, kommt eine zinslose Stundung nicht in Betracht […].

[Die] gesetzlichen Voraussetzungen für eine Stundung wegen landwirtschaftlicher Nutzung [lagen] bei Erlass der Beitrags- und Stundungsbescheide vom 2. November 2005 nicht vor. Die Klägerinnen hatten bereits Jahre zuvor den ursprünglich von ihren Eltern geführten landwirtschaftlichen Betrieb aufgegeben. Die Grundstücke waren seit dem 1. Januar 1997 an […] ihren Cousin […] verpachtet; dieser gehört nicht zu den Familienangehörigen im Sinn von § 15 AO.“


Der Stundungsbescheid entfaltete deswegen keinerlei Wirkung.

„Der Senat hat bereits entschieden, dass ein gemeindlicher Bescheid, mit dem der Erschließungsbeitrag entsprechend dem gesetzlichen Wortlaut des § 135 Abs. 4 BauGB „solange gestundet wurde, wie das Grundstück zur Erhaltung der Wirtschaftlichkeit des landwirtschaftlichen Betriebs genutzt werden muss“, seine Wirksamkeit automatisch in dem Zeitpunkt einbüßt, in dem diese Voraussetzung wegfällt. Eines besonderen Aufhebungsbescheids bedarf es dazu nicht; es kommt allein auf den objektiven Wegfall der Voraussetzung für die Stundung an […]. Entsprechendes gilt in der vorliegenden Fallkonstellation. [Das Verwaltungsgericht hat] mit überzeugender Begründung ausgeführt, dass der Stundungsbescheid von Anfang an keine Wirkungen entfaltet, wenn die Voraussetzungen des § 135 Abs. 4 BauGB – wie im vorliegenden Fall – von Anfang an objektiv nicht vorliegen. Ein solcher Stundungsbescheid geht gleichsam ins Leere. Ihm kann daher entgegen der Auffassung des Beklagten keine Tatbestandswirkung zukommen. Es bedarf folglich keines besonderen Aufhebungsbescheids oder einer Rücknahme oder eines Widerrufs der Stundung, um den Erschließungsbeitrag fällig zu stellen.“


Der Erschließungsbeitrag war zum Zeitpunkt der Rückforderung verjährt.

„Das Verwaltungsgericht hat vor diesem Hintergrund zu Recht entschieden, dass der Beginn der Zahlungsverjährungsfrist nicht aufgrund der mit Bescheiden vom 2. November 2005 ausgesprochenen Stundungen hinausgeschoben worden und keine Unterbrechung der Zahlungsverjährungsfrist erfolgt ist.“


Die falsche Einschätzung des Sachverhalts hindert den Eintritt der Verjährung nicht.

„Der Beklagte kann dem Erstattungsanspruch der Klägerinnen nicht mit Erfolg „Kenntnis der Nichtschuld“ im Sinn des § 814 BGB oder treuwidriges Verhalten entgegensetzen.

Nach den unwidersprochenen Feststellungen des Verwaltungsgerichts wurden die Stundungen von Amts wegen ausgesprochen. Es gibt keine Anhaltspunkte für die Vermutung, die Klägerinnen könnten sie durch unvollständige oder gar falsche Angaben herbeigeführt haben. Ebenso wenig spricht etwas für die Annahme, die Klägerinnen hätten die Rechtslage von Anfang an erkannt oder jedenfalls bei Zahlung der vom Beklagten angeforderten Erschließungsbeiträge gewusst, dass bereits Zahlungsverjährung eingetreten ist und sie ohne Rechtsgrund leisten. Im Gegenteil deutet alles darauf hin, dass sich sowohl der Beklagte als auch die Klägerinnen bei Erlass der Bescheide vom 2. November 2005 im Rechtsirrtum über die einzelnen Stundungsvoraussetzungen des § 135 Abs. 4 BauGB befanden. Die Klägerinnen hatten nach Aktenlage keinen Anlass zur Annahme, die Verpachtung der – weiterhin landwirtschaftlich genutzten – Grundstücke im Jahr 1997 sei von Bedeutung und dem Beklagten mitzuteilen oder gar nachzumelden. Erst recht kann ihnen nicht zum Vorwurf gemacht werden, sie hätten die rechtswidrige Stundung von Anfang an „sehenden Auges“ erwirkt. Das gilt umso mehr, als von Seiten des Beklagten die gesetzlichen Stundungsvoraussetzungen wohl nicht ausreichend ermittelt, jedenfalls aber nicht dokumentiert und in den Bescheiden vom 2. November 2005 den Klägerinnen gegenüber auch nicht hinreichend klargestellt worden sind.“


Unsere Hinweise:

Die Daten der vorgestellten höchstrichterlichen Entscheidung finden Sie in unseren Tipps für die Praxis. In Ihrem Matloch/Wiens finden Sie die Erläuterungen zur Stundung von Erschließungsbeiträgen für landwirtschaftliche Grundstücke in den Rdnr. 1703 ff.


Unsere Tipps für die Praxis:

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