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18.06.2019

G_2019-06-24_Erschließungsvertrag kann zu einer von der natürlichen Betrachtungsweise abweichenden Anlagenabgrenzung führen

Der Grundsatz:

Wie weit eine Straße als einzelne Erschließungsanlage reicht und wo eine andere Verkehrsanlage beginnt, bestimmt sich grundsätzlich nach dem Gesamteindruck, den die jeweiligen tatsächlichen Verhältnisse einem unbefangenen Beobachter ver­mitteln. Dieser hat sich ausgehend von einer natürlichen Betrachtungsweise an der Straßenführung, der Straßenlänge, der Straßenbreite und der Straßenausstattung auszurichten. Es gibt indes einige Fallgestaltungen, in denen vom Grundsatz der natürlichen Betrachtungsweise aus Rechtsgründen eine Ausnahme zu machen ist. 

 

Der Fall:

Dem Urteil des Oberverwaltungsgerichts lag ein Rechtsstreit über Vorausleistungen auf den Erschließungsbeitrag zugrunde.

 

Die obergerichtliche Entscheidung:

Das Gericht äußert sich in seiner Entscheidung insbesondere zu der in der obergerichtlichen Rechtsprechung umstrittenen und höchstrichterlich vom Bundesverwaltungsgericht noch nicht entschiedenen Frage, ob aus Rechtsgründen eine von der natürlichen Betrachtungsweise abweichende Anlagenabgrenzung erforderlich ist, wenn eine Teilstrecke eines (bei natürlicher Betrachtungsweise) einheitlichen Straßenzugs auf der Grundlage eines Erschließungsvertrages hergestellt wird. Dabei stellt das Gericht heraus, dass in bestimmten Fallgestaltungen aus Rechtsgründen eine vom Grundsatz der natürlichen Betrachtungsweise abweichende Anlagenabgrenzung angezeigt sein kann und äußerst sich zum Fall eines Erschließungsvertrags wie folgt:

 

Auch eine „Regimeentscheidung“ durch einen Erschließungsvertrag kann aus Rechtsgründen zu einer von der natürlichen Betrachtungsweise abweichenden Anlagenabgrenzung führen:

„Eine von der natürlichen Betrachtungsweise abweichend zu beurteilende Situation ist darüber hinaus auch dann gegeben, wenn eine Gemeinde durch den Abschluss eines Erschließungsvertrages – wie hier im Hinblick auf die östliche Anbindung des Nahversorgungszentrums über den W.weg an die H.straße – eine Weichenstellung dahingehend vorgenommen hat, dass innerhalb eines (bei natürlicher Betrachtungsweise) einheitlichen Straßenzuges die Herstellungskosten der im Gebiet des Erschließungsvertrages gelegenen Teilstrecke privatrechtlich abgewickelt werden, während die verbleibende Reststrecke von ihr selbst herzustellen und damit über die Erhebung von Erschließungsbeiträgen abzurechnen ist. Auch in diesem Fall gebieten es Rechtsgründe, die verbleibende, jenseits des Vertragsgebietes liegende Reststrecke als die (allein beitragsfähige) Erschließungsanlage im Sinne der §§ 127 ff. BauGB anzusehen (…). Dies beruht auf der Überlegung, dass die Erschließung nach § 123 Abs. 1 BauGB grundsätzlich Aufgabe der Gemeinden ist. Nach § 124 Abs. 1 BauGB in der bis zum 20. Juni 2013 geltenden Fassung (§ 124 Abs. 1 BauGB a.F. – nunmehr geregelt in § 11 Abs. 1 Satz 2 Nr. 1 BauGB) kann die Gemeinde die Erschließung aber durch Vertrag auf einen Dritten übertragen. Mit der Entscheidung, durch den Abschluss eines Erschließungsvertrages im Sinne von § 124 Abs. 1 BauGB a.F. diesen Dritten, in der Regel einen privaten Unternehmer, als Erschließungsträger mit der Herstellung einer Erschließungsanlage auf dessen Rechnung zu beauftragen, anstatt dies selbst und auf eigene Rechnung durchzuführen, trifft die Gemeinde eine grundsätzliche Weichenstellung („Regimeentscheidung") über das zur Anwendung gelangende Rechtsregime, auf dessen Grundlage die Anlieger an den Kosten der Herstellung der Anlage beteiligt werden: Während bei einer aufgrund eines Erschließungsvertrages hergestellten Erschließungsanlage der Erschließungsträger in der Regel die ihm entstandenen Kosten für die Herstellung der Erschließungsanlage privatrechtlich – meistens im Rahmen des Kaufvertrages über ein (Bau-)Grundstück auf dessen Erwerber – abwälzt (und die Gemeinde hierauf keinen Einfluss hat), muss die Gemeinde, wenn sie selbst die Erschließungsanlage herstellt, den ihr entstandenen (anderweitig nicht gedeckten) Aufwand nach Maßgabe der §§ 127 ff. BauGB durch die Erhebung von Erschließungsbeiträgen (re-)finanzieren. Schließen dabei zwei Straßenstrecken unmittelbar aneinander an, von denen die eine im Rahmen eines (wirksamen) Erschließungsvertrages, die andere von der Gemeinde selbst hergestellt worden ist, so liegt an ihrer Schnittstelle zugleich die Grenze des anzuwendenden Rechtsregimes. Dem Refinanzierungssystem des Erschließungsbeitragsrechts unterliegt dann, da die Gemeinde mit den jenseits der erwähnten Schnittstelle entstandenen Herstellungskosten „nichts zu tun" hat, nur die von der Gemeinde selbst hergestellte Verkehrsanlage. Nur sie ist die „beitragsfähige Erschließungsanlage" im Sinne der §§ 127 ff. BauGB.“

 

Ob hiervon in bestimmten Fallkonstellationen eine Ausnahme zu machen ist, lässt das Oberverwaltungsgericht offen:

„Ob davon eine Ausnahme zu machen ist, wenn sich die Trennung in zwei unterschiedliche Erschließungsanlagen als willkürlich erweist (…) oder die vom Erschließungsträger hergestellte Zuwegung derart kurz ist, dass ihr eine eigenständige Bedeutung als Verkehrsanlage abgesprochen werden muss (...), kann dahinstehen. Eine willkürliche Trennung zwischen der H.straße und dem W.weg ist nicht erkennbar. Auch kann dem W.weg angesichts des Gewichts der durch ihn erschlossenen Bebauung und der Zahl der zu erwartenden Fahrbewegungen eine eigenständige Bedeutung als Verkehrsanlage nicht abgesprochen werden.“

 

Die Gegenauffassung lehnt das Oberverwaltungsgericht mit beachtlichen Argumenten ab:

Die gegen die vorgenannte Auffassung zur „Regimeentscheidung“ vorgebrachten Argumente (…) vermögen nicht zu überzeugen. Zwar wird der Erschließungsunternehmer, wie das Schleswig-Holsteinische Oberverwaltungsgericht zu Recht ausgeführt hat, nicht selbst öffentlich-rechtlich – etwa als Beliehener – tätig; ihm wird auch nicht die Refinanzierung durch die Gemeinde übertragen (…). Vielmehr realisiert der Erschließungsunternehmer die Anlage regelmäßig vollständig auf eigene Kosten und überträgt die Straßenfläche sodann lastenfrei auf die Gemeinde. Ob und inwieweit der Erschließungsunternehmer die Kosten hierfür an Dritte weitergibt bzw. weitergeben kann, liegt in seiner Entscheidungshoheit und stellt ausschließlich sein wirtschaftliches Risiko dar. Mithin kommt in diesem Kontext das Konstrukt der öffentlichen-rechtlichen Beitragsfinanzierung zur Abgeltung des individuellen Erschließungsvorteils gerade nicht zum Tragen. Dies rechtfertigt das unterschiedliche erschließungsbeitragsrechtliche Schicksal beider Teilstrecken. Ließe man eine Einbeziehung einer einer solchen privatrechtlichen „Regimeentscheidung“ unterliegenden Straße und ihrer Anlieger in die Abrechnung der anschließenden Erschließungsanlage zu, würde dies unterschiedslos auch solche Anlieger treffen, die ausschließlich an der durch den Erschließungsunternehmer hergestellten Teilstrecke liegen und mit diesem bereits einen – wie auch immer gearteten – wirtschaftlichen Ausgleich für den ihr Grundstück betreffenden Erschließungsvorteil herbeigeführt haben. Sie würden wirtschaftlich gesehen doppelt belastet. Ein Ausweg könnte allein die Abschnittsbildung im Rahmen des üblichen Beitragserhebungsverfahrens darstellen; für den durch den Erschließungsunternehmer erstellten Teil würde es insoweit an beitragsfähigen Aufwendungen fehlen. Die Abschnittsbildung steht aber nach § 130 Abs. 2 Satz 1 BauGB im Ermessen der Gemeinde. Der prinzipiellen Annahme einer die Erhebung von Erschließungsbeiträgen ausschließenden „Regimeentscheidung“ steht auch nicht entgegen, dass in bestimmten – hier indes nicht gegebenen – Fallkonstellationen zwischen dem Erschließungsunternehmer und der Gemeinde eine Abrede bestehen kann, dass letztere die entstandenen beitragsfähigen Aufwendungen gegen entsprechenden Nachweis erstattet und in der Folge im Außenverhältnis – auch gegenüber Drittanliegern – selbst die Erschließungskosten im Beitragswege geltend macht (…). Sieht der Vertrag zwischen dem Unternehmer und der Gemeinde solche Abrechnungsmodalitäten vor, handelt es sich eben nicht um eine nach außen wirkende „Regimeentscheidung“ in dem vorgenannten Sinne, sondern allein um eine zwischen den Vertragsparteien wirkende Verrechnungsklausel, die im Außenverhältnis zu den Anliegern die Erhebung von Erschließungsbeiträgen nicht ausschließt, sondern sogar voraussetzt (…). Auch die gegebenenfalls erforderliche Übernahme der Erschließungsarbeiten durch die Gemeinde von dem Erschließungsunternehmer (etwa weil dieser insolvent geworden ist und die Erschließungsanlage nicht vollständig hergestellt hat) spricht nicht allgemein gegen die Annahme einer „Regimeentscheidung“. Vielmehr dürfte eine Abänderung dieser Entscheidung bis zu dem Entstehen der Beitragspflicht mit der endgültigen Herstellung der Erschließungsanlage nach § 133 Abs. 2 Satz 1 BauGB ohne weiteres möglich sein. Eine eventuell in diesem Fall eintretende wirtschaftliche Doppelbelastung der Anlieger wäre die Folge einer mangelhaften Vertragserfüllung im Verhältnis zwischen Erschließungsunternehmer und Anlieger und dort nach privatrechtlichen Maßstäben abzuwickeln (…). Soweit das Schleswig-Holsteinische Oberverwaltungsgericht schließlich auf die (sich aus § 124 Abs. 2 Satz 2 BauGB a.F. ausdrücklich ergebende) Möglichkeit verweist, dass ein Erschließungsunternehmer eine Erschließungsanlage nur teilweise auf eigene Kosten herstellt und in der Folge die Gemeinde die Möglichkeit der Erhebung von Erschließungsbeiträgen für den restlichen Aufwand hat (…), ist dies gleichfalls kein durchgreifendes Argument gegen die beitragsrechtliche Relevanz der „Regimeentscheidung“. Nimmt man eine solche Teilbarkeit an (…), würde es in einem derartigen Fall wohl ohnehin an einer die Beitragserhebung (gänzlich) verdrängenden „Regimeentscheidung“ fehlen, weil die Gemeinde insoweit eine in ihrer Erschließungslast liegende, beitragsfähige Erschließungsanlage jedenfalls teilweise – etwa im Hinblick auf den Grunderwerb oder bestimmte Teileinrichtungen – auf eigene Kosten und in Eigenregie herstellt. Die Folgen der „Regimeentscheidung“ auf das für die Kostenbeteiligung maßgebliche Rechtsregime reichen nicht über den Gegenstand des Erschließungsvertrags hinaus.“

 

Unsere Hinweise:

Die Daten der vorgestellten Entscheidung finden Sie in unseren Tipps für die Praxis. In Ihrem Matloch/Wiens finden Sie Erläuterungen zur natürlichen Betrachtungsweise und zu einer hiervon aus Rechtsgründen abweichenden Beurteilung der Anlagenabgrenzung in Rn. 701. Die Rechtsprechung zur Frage einer abweichenden Anlagenabgrenzung, wenn eine Teilstrecke eines (bei natürlicher Betrachtungsweise) einheitlichen Straßenzugs auf der Grundlage eines Erschließungsvertrages hergestellt wird, wird bei Rn. 712 ausführlich dargestellt.


Unsere Tipps für die Praxis:

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