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09.10.2019

A_2019-10-10_Verlängerungsstrecke als selbstständige Erschließungsanlage?

Der Grundsatz: 

Wie weit eine Straße als einzelne Erschließungsanlage reicht und wo eine andere Verkehrsanlage beginnt, bestimmt sich grundsätzlich nach dem Gesamteindruck, den die jeweiligen tatsächlichen Verhältnisse einem unbefangenen Beobachter vermitteln. Dieser hat sich ausgehend von einer natürlichen Betrachtungsweise an der Straßenführung, der Straßenlänge, der Straßenbreite und der Straßenausstattung auszurichten. Von diesem Grundsatz ist aus Rechtsgründen u.a. bei der Verlängerung einer bereits endgültig hergestellten Anbaustraße abzuweichen.

 

 

Der Fall: 

Der obergerichtlichen Entscheidung lag ein Rechtsstreit über die Heranziehung zu einem Erschließungsbeitrag zugrunde. Die beklagte Gemeinde hatte die insgesamt etwa 455 m lange Straße in drei Etappen gebaut: Bereits 1985 wurde der nördliche, etwa 274 m lange Teil fertiggestellt und nach Erschließungsbeitragsrecht abgerechnet. Das zweite, in südlicher Richtung anschließende, etwa 74 m lange Teilstück (erste Verlängerung) wurde 1994 bis 1996 gebaut, wobei der Gehweg eine bituminöse Tragschicht, aber noch keine Deckschicht erhielt. Das dritte nach Süden fortgeführte Teilstück (zweite Verlängerung) von etwa 94 m Länge stellte die Beklagte in den Jahren 2010 und 2011 her. Im Zuge dieser Baumaßnahme ließ sie zudem die Asphaltdeckschicht auf dem Gehweg der ersten Verlängerung aufbringen. 

 

Die obergerichtliche Entscheidung:

In seinem Beschluss stellt das Gericht zunächst die Grundsätze der Anlagenabgrenzung im Falle der Verlängerung einer Anlage dar. Anschließend arbeitet es heraus, warum gemessen an diesen Grundsätzen im entschiedenen Fall die Anlage sowohl die erste als auch die zweite Verlängerung umfasst.

Ausgangspunkt für die Anlagenabgrenzung ist die natürliche Betrachtungsweise:

„Wie weit eine Straße als einzelne Erschließungsanlage reicht und wo eine andere Verkehrsanlage beginnt, bestimmt sich grundsätzlich nach dem Gesamteindruck, den die jeweiligen tatsächlichen Verhältnisse einem unbefangenen Beobachter vermitteln. Zu fragen ist dabei, inwieweit sich die zu beurteilende Straße als augenfällig eigenständiges Element des örtlichen Straßennetzes darstellt. Deshalb hat sich der ausschlaggebende Gesamteindruck nicht an Straßennamen, Grundstücksgrenzen oder dem zeitlichen Ablauf von Planung und Bauausführung auszurichten, sondern, ausgehend von einer natürlichen Betrachtungsweise, an der Straßenführung, der Straßenlänge, der Straßenbreite und der Straßenausstattung (ständige Rechtsprechung; …). Maßgebend ist das Erscheinungsbild, d.h. die tatsächlichen Verhältnisse, wie sie sich im Zeitpunkt des Entstehens sachlicher Beitragspflichten, also nach Durchführung der Herstellungsmaßnahme, einem unbefangenen Beobachter bei natürlicher Betrachtungsweise darstellen (…).“

Von diesem Grundsatz ist u.a. bei der Verlängerung einer bereits endgültig hergestellten Anbaustraße abzuweichen:

„Abweichend vom Grundsatz der natürlichen Betrachtungsweise kann aus Rechtsgründen ein einheitlich erscheinender Straßenzug in zwei jeweils selbständig zu betrachtende Erschließungsanlagen zerfallen. Das ist insbesondere dann der Fall, wenn eine schon endgültig hergestellte Anbaustraße nachträglich verlängert oder fortgeführt wird. Dann stellt das nachträglich angelegte Teilstück eine selbstständige Erschließungsanlage dar, auch wenn zu diesem späteren Zeitpunkt eine – grundsätzlich gebotene – natürliche Betrachtungsweise einen einheitlichen Straßenverlauf des vorhandenen und des neu hergestellten Straßenteilstücks ergibt. Diese Ausnahme betrifft allerdings nur solche Fälle, in denen eine endgültig hergestellte Anbaustraße nachträglich um eine zuvor nicht angelegte Teilstrecke verlängert wird (…); war der gesamte Straßenzug hingegen bereits angelegt und zur verkehrsmäßigen Erschließung der Anliegergrundstücke benutzbar, aber nur auf einer Teilstrecke fertiggestellt, scheidet eine rechtliche Verselbständigung aus (…).“

Im entschiedenen Fall zerfallen die erste und zweite Verlängerung nicht in zwei jeweils selbstständige Erschließungsanlagen. Dies ergibt sich zwar nicht aus einem entsprechenden Beschluss des Gemeinderats, jedoch aus dem Umstand, dass die erste Verlängerung nicht bereits bei ihrer Anlegung, sondern erst zusammen mit dem Bau der zweiten Verlängerung endgültig hergestellt worden war:

„Gemessen an diesen Vorgaben zerfallen die 1994/1996 angelegte erste und die 2010/2011 gebaute zweite Verlängerung des bei natürlicher Betrachtungsweise einheitlichen (…) Wegs (…) nicht aus Rechtsgründen in zwei jeweils eigenständige Erschließungsanlagen. 

Das ergibt sich allerdings nicht (…) aus dem Beschluss des Gemeinderats der Beklagten vom 11. April 1994, wonach die erste Verlängerung noch nicht gleich, sondern erst zusammen mit der (geplanten) Fortführung in Richtung Süden endgültig fertiggestellt werden sollte, um beide dann einheitlich abzurechnen. Für die Frage nach der Ausdehnung einer Erschließungsanlage kommt es nicht auf die Planung ‚auf dem Papier‘ an, sondern darauf, was ‚in der Natur‘ vorhanden ist (natürliche Betrachtungsweise). Auch die Frage, ob die in der Natur vorhandene Anlage endgültig hergestellt ist (Art. 5a KAG i.V.m. § 133 Abs. 2 Satz 1 Halbsatz 1 BauGB), richtet sich nicht nach gemeindlichen Willenserklärungen, sondern danach, ob die Anlage objektiv dem satzungsmäßigen Teileinrichtungsprogramm (für Beleuchtung und Entwässerung), dem auch formlos möglichen konkreten Bauprogramm (für die flächenmäßigen Teileinrichtungen) und schließlich in bautechnischer Hinsicht dem satzungsmäßigen Ausbauprogramm (den Herstellungsmerkmalen) entspricht. Für beide Fragen gibt der Gemeinderatsbeschluss weder unmittelbar noch mittelbar etwas her. Insbesondere zielt er nicht auf die Änderung eines der genannten (Bau-)Programme, die den Maßstab für die endgültige Herstellung bilden.

Die erste Verlängerung kann jedoch deshalb keine eigenständige Erschließungsanlage darstellen, weil sie (…) bei ihrer Anlegung in den Jahren 1994 bis 1996 – objektiv – noch nicht endgültig hergestellt worden war, sondern die endgültige Herstellung erst zusammen mit dem Bau der zweiten Verlängerung in den Jahren 2010/2011 abgeschlossen wurde und es deshalb beim Grundsatz der natürlichen Betrachtungsweise bleibt. Denn der Gehweg entsprach nicht dem satzungsmäßigen Ausbauprogramm der Beklagten, sondern war bis zum abschließenden Ausbau nur provisorisch angelegt.“

 

Unsere Hinweise:

Die Daten der vorgestellten Entscheidung finden Sie in unseren Tipps für die Praxis. In Ihrem Matloch/Wiens finden Sie Erläuterungen zur natürlichen Betrachtungsweise und zu einer hiervon aus Rechtsgründen abweichenden Beurteilung der Anlagenabgrenzung in Rn. 701, die Verlängerung einer Anlage ist ferner bei Rn. 18 kommentiert.


Unsere Tipps für die Praxis:

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Die Tipps für die Praxis:

 

Die Daten der vorgestellten Entscheidung: 

BayVGH, B. v. 25.3.2019 – 6 ZB 18.1416 – juris

 

Unsere Tipps: 

Seit langem geht die Rechtsprechung davon aus, dass dann, wenn eine zum Anbau bestimmte Straße verlängert wird, die Verlängerungsstrecke in Abweichung vom Grundsatz der natürlichen Betrachtungsweise als weitere, also zusätzliche Erschließungsanlage zu werten sein kann. Dies gilt jedenfalls dann, wenn für die bereits früher endgültig hergestellte Anbaustraße die sachlichen Beitragspflichten (s. dazu in Ihrem Matloch/Wiens die Erläuterung bei Rdnr. 1101 ff.) entstanden waren (BVerwG 8 C 80.88 – juris Rdnr. 16 f.; BayVGH 6 ZB 14.2404 – juris Rdnr. 13; 6 ZB 13.1128 – juris Rdnr. 8; 6 B 08.1935 – juris Rdnr. 16; 6 CS 03.2773 – juris Rdnr. 16; 6 ZB 98.1724 – juris Rdnr. 7; OVG NW v. 21.11.2018 – 15 A 78/16 – juris Rdnr. 60 f.; v. 24.11.1998 – 3 A 706/91 – juris Rdnr. 7). In neueren Entscheidungen wie u.a. in der hier vorgestellten lässt es der Bayerische Verwaltungsgerichtshof nunmehr sogar ausreichen, dass es sich bei der bereits vor der Verlängerung bestehenden Straße um eine endgültig hergestellte Anbaustraße gehandelt hat (BayVGH 6 ZB 18.1416 – juris Rdnr. 10; 6 B 17.192 – juris Rdnr. 19; 6 B 17.189 – juris Rdnr. 19). Daran gemessen genügt es, dass die Merkmale der endgültigen Herstellung vorlagen, nicht entscheidend ist, ob darüber hinaus auch die sachlichen Beitragspflichten entstanden waren.