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07.03.2024

Wiederaufgreifen eines rechtswidrigen bestandskräftigen Beitragsbescheids

Die Grundsätze:

Nach § 173 Abs. 1 Nr. 2 Abgabenordnung (AO) sind Abgabenbescheide aufzuheben oder abzuändern, soweit Tatsachen oder Beweismittel nachträglich bekannt werden, die zu einer niedrigeren Steuer führen und den Steuerpflichtigen kein grobes Verschulden daran trifft, dass die Tatsachen oder Beweismittel erst nachträglich bekannt werden. In einigen Bundesländern ist diese Vorschrift über eine landesrechtliche Verweisung anwendbar; dies gilt nicht für Bayern. Ansonsten gelten für die Rücknahme oder Abänderung von rechtswidrigen Beitragsbescheiden die Vorschriften des Rechts der Verwaltungsverfahrensgesetze sowie – soweit durch landesrechtliche Verweisung anwendbar - die allgemeine Vorschrift des § 130 Ab.s 1 AO.

Hiernach aber besteht in aller Regel kein Anspruch auf Rücknahme eines bestandskräftigen Bescheids; der Beitragspflichtige kann allenfalls eine ermessensfehlerfreie Entscheidung erwarten.

Der Fall:

Die später beklagte Gemeinde hatte im Jahr 2008 zunächst nur die Anlieger eines Teilstücks der Straße zu Beiträgen herangezogen. Nachdem es als Fehler erkannt wurde, dass nicht sämtliche Anlieger der gesamten Straße herangezogen wurden, erhob die Gemeinde im Anschluss an den Gesamtausbau der Straße im Jahr 2015 erneut Beiträge, so auch gegenüber der Klägerin, die bereits bei der früher erfolgten – unkorrekten – Beitragserhebung herangezogen worden war. Die Klägerin ließ den Bescheid bestandskräftig werden, begehrte aber nun von der beklagten Gemeinde die Verpflichtung zur Rücknahme des bestandskräftigen Bescheides über die Heranziehung von Beiträgen. Weiter begehrt sie die Rückzahlung des darin festgesetzten Beitrages. Inzwischen ist auch die vierjährige Festsetzungsverjährungsfrist verstrichen.

Das Verwaltungsgericht hat die Klage abgewiesen. Mit ihrem Antrag auf Zulassung der Berufung wendet sich die Klägerin an das Berufungsgericht. Sie trägt vor, die dem Abgabenbescheid zugrundeliegende Satzung enthalte einen Verstoß gegen das Zitiergebot und sei damit unwirksam gewesen. Unter anderem wendet sie weiter ein, ihr stehe ein Anspruch auf das Wiederaufgreifen des Verfahrens zu. Sie sei doppelt herangezogen worden.

Die obergerichtliche Entscheidung:

„Nach § … hat die Behörde auf Antrag der oder des Betroffenen über die Aufhebung oder Änderung eines unanfechtbaren Verwaltungsaktes zu entscheiden, wenn sich die dem Verwaltungsakt zugrunde liegende Sach- oder Rechtslage nachträglich zugunsten der oder des Betroffenen geändert hat (…) oder neue Beweismittel vorliegen, die eine der oder dem Betroffenen günstigere Entscheidung herbeigeführt hätten (…) oder Wiederaufnahmegründe … gegeben sind (...). Seit Erlass des Beitragsbescheides im Jahre 2008 liegt eine (tatsächlich) unveränderte Sach- und Rechtslage vor.“

Die korrigierte Rechtsauffassung ist für die Frage einer nachträglichen Bescheidsänderung ohne Bedeutung

„Daran ändert sich auch nichts dadurch, dass die Beklagte den gleichen Sachverhalt im Jahre 2008 anders als das Verwaltungsgericht im Jahre 2017 und damit unrichtig beurteilt bzw. bewertet hat (…). Das Verwaltungsgericht hat die B…straße in der Gemeinde … in ihrer gesamten Ausdehnung von der Einmündung der Straße „G…“ bis zum Beginn der Fußgängerzone in der F…straße und nicht nur – wie die Beklagte es getan hat – den nördlichen Teilbereich der B…straße zwischen der F…straße und der Bö…straße als öffentliche Einrichtung angesehen. Dass das Verwaltungsgericht bezogen auf das Jahr 2008, also im hier maßgeblichen Zeitpunkt der Entstehung der sachlichen Beitragspflicht (Abnahme der Ausbaumaßnahme am 7. August 2008), zu einer anderen Einschätzung gelangt wäre, etwa, weil der Straßenzug bei natürlicher Betrachtung ein anderes äußeres Erscheinungsbild gehabt hätte (vgl. dazu Senatsurteil vom 8. Juli 2021 – 2 LB 99/18 – juris Rn. 40 m. w. N.), hat die Klägerin nicht dargetan und ist auch sonst nicht ersichtlich.

Soweit die Klägerin mit Bezug auf die Fundstelle in Falkenbach (BeckOK VwVfG, 60. Ed. 01.07.2023, VwVfG § 51 Rn. 36.1) meint, dass Gerichtsentscheidungen mit präjudizieller Wirkung in Bezug auf den Verwaltungsakt als eine geänderte Sachlage anzusehen seien, mag dies zwar zutreffen (vgl. § 121 VwGO), bedurfte hier allerdings näherer Ausführungen. Die Klägerin hat schon nicht dargelegt, dass der Beschluss des Verwaltungsgerichts vom 14. August 2017 eine rechtskräftige Entscheidung – was hier nicht der Fall ist (vgl. dazu die Ausführungen des Verwaltungsgerichts …) – darstellt, die zwischen den Beteiligten dieses Rechtsstreits (inter partes) wirkt und damit überhaupt präjudiziell für künftige Verfahren sein könnte. Nach den Ausführungen des Verwaltungsgerichts (…) einigten sich zwei Anlieger des südlichen Teilbereichs der Bismarckstraße in zwei Verfahren (…) vor dem Verwaltungsgericht, nachdem die Einzelrichterin in einem Ortstermin (Augenscheinsnahme) die Auffassung vertreten hatte, dass die Beklagte die Ausdehnung der öffentlichen Einrichtung „B…straße“ fehlerhaft bestimmt habe.“

Keine nachträgliche Änderung der Rechtslage

„Die Rechtslage hat sich ebenfalls nicht nachträglich geändert. Dafür hätten die für den Verwaltungsakt maßgeblichen Rechtsnormen – was nicht der Fall ist – geändert werden müssen (vgl. die Kommentierung zum wortgleichen § 51 Abs. 1 Nr. 1 VwVfG in: Schoch/Schneider/Schoch, 3. EL August 2022, VwVfG § 51 Rn. 61). Dahingestellt bleiben kann, ob eine veränderte Rechtsprechung bzw. die von einem Beteiligten abweichende Rechtsauffassung eines Gerichts überhaupt eine Änderung der Rechtslage im Sinne der Norm darstellt (vgl. zum Ganzen: die Kommentierung zum wortgleichen § 51 Abs. 1 Nr. 1 VwVfG in: Schoch/Schneider/Schoch, 3. EL August 2022, VwVfG § 51 Rn. 63 m. w. N.; Pautsch in: Pautsch/Hoffmann, VwVfG, § 51 Wiederaufgreifen des Verfahrens, Rn. 12 m. w. N.). Es liegt keine geänderte Rechtsprechung vor. Auch in den Jahren 2008 und 2009 ist in der Senatsrechtsprechung die Ausdehnung einer öffentlichen Einrichtung nach einer natürlichen Betrachtungsweise bestimmt worden (...).“

Keine Änderung der Verwaltungspraxis

„Eine Änderung der Verwaltungspraxis, die hier nicht vorliegt, weil die Beklagte unter Anwendung derselben Verwaltungspraxis lediglich die Ausdehnung der öffentlichen Einrichtung nach der Rechtsauffassung des Verwaltungsgerichts unrichtig beurteilt hat – stellte ebenfalls keinen Wiederaufgreifensgrund … dar (vgl. zum Ganzen: die Kommentierung zum wortgleichen § 51 Abs. 1 Nr. 1 VwVfG in: Schoch/Schneider/Schoch, 3. EL August 2022, VwVfG § 51 Rn. 60 f.; Pautsch in: Pautsch/Hoffmann, VwVfG, § 51 Wiederaufgreifen des Verfahrens, Rn. 13 m. w. N.).

In diesem Zusammenhang kann die Klägerin sich auch nicht auf den Beschluss des Niedersächsischen Oberverwaltungsgerichts vom 20. November 2007 (– 2 LA 626/07 –, juris bzw. NVwZ-RR 2008, 356, nicht MVwZ 2008, 356; BeckOK VwVfG/Falkenbach, 60. Ed. 01.07.2023, VwVfG § 51 Rn. 36 mit Hinweis darauf) berufen. In dem dort in Bezug genommenen Prüfungsfall hat die Prüfungsbehörde (Prüfungsausschuss) ihre Verwaltungspraxis von Amts wegen geändert, ohne dass – anders als hier – eine gerichtliche Entscheidung sie dazu veranlasst hätte. Insoweit beruhte die geänderte Sachlage und damit einhergehende veränderte Verwaltungspraxis nicht auf gerichtlich erlangten Erkenntnissen, sondern auf einer aus späterer Erkenntnis resultierenden geänderten nachträglichen Praxis oder Einstellung des Prozessgegners …“.

Dass die (abweichende) Rechtsauffassung eines Gerichts – hier: durch die abweichende Bestimmung der Ausdehnung einer öffentlichen Einrichtung bzw. des Abrechnungsgebietes – kein neues Beweismittel i. S. d. § 118a Abs. 1 Nr. 2 LVwG ist, bedarf keiner weiteren Erläuterung (vgl. zu den Beweismitteln im engeren und weiteren Sinne schon oben zur Nr. 3: die Kommentierung zu § 173 AO: Loose in: Tipke/Kruse, AO/FGO, 177. Lfg. 9/2023, § 173 AO 1977, Rn. 21ff. m.w.N); zum Ganzen: die Kommentierung zum wortgleichen § 51 Abs. 1 Nr. 1 VwVfG in: Schoch/Schneider/Schoch, 3. EL August 2022, VwVfG § 51, Rn. 66 mit Verweis auf § 26, Rn. 16 ff.; Pautsch in: Pautsch/Hoffmann, VwVfG, § 51 Wiederaufgreifen des Verfahrens, Rn. 14 ff. m. w. N.).“

Die Zusammenfassung:

„Zusammenfassend bzw. anders ausgedrückt: Die Klägerin hat es bei seither unverändert bestehender Sach- und Rechtlage und von Anfang an vorhandenen Beweismitteln (Augenschein) schlicht versäumt, in den Jahren 2008 bzw. 2009 Rechtsmittel gegen den Ausbaubeitragsbescheid vom 4. November 2008 einzulegen, so dass Festsetzungsverjährung eingetreten ist. Das muss sie nun gegen sich gelten lassen.“

Unsere Hinweise:

Die vorgestellte Entscheidung befasst sich über die Frage eines Wiederaufgreifens des Verwaltungsverfahrens noch mit weiteren Rechtsfragen, so ausführlich mit der Bedeutung des Ablaufs der Festsetzungsverjährungsfrist und dem Gedanken, bei eingetretener Bestandskraft eine Bescheidsänderung nach den Grundsätzen von Treu und Glauben zu erreichen. Zu Letzterem haben wir bereits berichtet.

Die im Fall genannten Beiträge wurden im Bereich des Straßenausbaubeitragsrechts erhoben, die vorgestellten Rechtsausführungen sind gleichermaßen im Erschließungsbeitragsrecht anwendbar.

Die Daten der vorgestellten Entscheidung finden Sie in unseren Tipps für die Praxis. In Ihrem Matloch/Wiens finden Sie zum Wiederaufgreifen rechtswidriger bestandskräftiger Beitragsbescheide ausführliche Erläuterungen mit der einschlägigen Rechtsprechung bei Rdnr. 1131a.


Unsere Tipps für die Praxis:

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