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11.09.2023

Vorteilslage – Bauprogramm und tatsächliche Ausführung

Unbestimmte Rechtsbegriffe machen die Handhabung von Normen in der Praxis schwierig. Insbesondere neue Regelungen sorgen daher häufig für Verunsicherung.  

Der Begriff der Vorteilslage spielt im Beitragsrecht eine nicht unerhebliche Rolle und wurde bereits vielfach von der Rechtsprechung konkretisiert. In seinem Urteil vom 15. November 2022 hat das Bundesverwaltungsgericht die Rahmenbedingungen für die Auslegung dieses Begriffs durch die jeweils zuständigen Landesgerichte nochmals zusammengefasst. 

Der Fall: 

Die beklagte Kommune hat gegenüber der Klägerin Vorausleistungen auf einen Erschließungsbeitrag festgesetzt. Die Bauarbeiten für die konkrete Maßnahme haben 1978 begonnen und wurden grundsätzlich 1986 abgeschlossen. 1987 wurde ein provisorisch vorbereitetes Baumbeet bepflanzt. Die letzte Teilzahlung hierfür erfolgte seitens der Beklagten 1989. Die Grundbucheintragung der Straßenlandparzelle fand 2016 statt.  

2017 kam die Beklagte nach interner Prüfung zu dem Ergebnis, dass noch keine bautechnische Fertigstellung gegeben sei, da das provisorisch vorbereitete Baumbeet nicht dem Ausbauprogramm entspreche.  

Mit Bescheid aus dem Jahr 2017 setzte die Beklagte Vorausleistungen fest. Hiergegen legte die Klägerin Klage ein und berief sich darauf, dass 30 Jahre nach der Abnahme eine Beitragserhebung ausgeschlossen sei.  

2018 änderte das zuständige Gremium das Ausbauprogramm.  

Die Entscheidung: 

Das Urteil befasst sich mit der rechtlichen Ausgangslage in Nordrhein-Westfahlen Lehrbuchhaft stellt das Bundesverwaltungsgericht in einem ersten Schritt die verfassungsmäßigen Rahmenbedingungen für die Schaffung einer Ausschlussfrist dar (Rn. 24 ff.). 

Weiterhin befasst sich das Bundesverwaltungsgericht im Rahmen seiner Prüfungskompetenz mit der Frage des Vorliegens einer Vorteilslage: 

„Dessen nähere Bestimmung richtet sich nach der jeweils abzugeltenden Leistung, im Erschließungsbeitragsrecht also nach dem durch die Erschließung vermittelten Vorteil i. S. d. §§ 127 ff. BauGB; Anknüpfungspunkt ist dabei ein in tatsächlicher Hinsicht abgeschlossener Vorgang (BVerfG, Beschluss vom 3. November 2021 - 1 BvL 1/19 - BVerfGE 159, 183 Rn. 68). Die Vorteilslage muss an rein tatsächliche, für den möglichen Beitragsschuldner erkennbare Gegebenheiten anknüpfen und rechtliche Voraussetzungen für das Entstehen der Beitragspflicht außer Betracht lassen. Bei Beachtung dieser Vorgaben steht den Fachgerichten im Rahmen der grundgesetzlichen Bindungen ein Spielraum zu, der in verfassungsrechtlicher Hinsicht nur eingeschränkt überprüfbar ist (BVerfG, Beschluss vom 3. November 2021 - 1 BvL 1/19 - BVerfGE 159, 183 Rn. 69).“ (Rn. 31) 

Zum inhaltlichen Verständnis des Begriffs führt das Bundesverwaltungsgericht Folgendes aus: 

„Mit dem Erfordernis der - vollständigen - Erfüllung des Bauprogramms greift die Rechtsprechung zur Bestimmung des relevanten abgeschlossenen Vorgangs auf den Begriff der "endgültigen Herstellung" der Erschließungsanlage als Voraussetzung für die Entstehung der sachlichen Beitragspflicht nach § 133 Abs. 2 Satz 1 BauGB zurück. Danach ist eine Anbaustraße erschließungsbeitragsrechtlich endgültig hergestellt, wenn sie die nach dem satzungsmäßigen Teileinrichtungsprogramm (für die nicht flächenmäßigen Teileinrichtungen) und dem ergänzenden Bauprogramm (bezüglich der flächenmäßigen Teileinrichtungen) erforderlichen Teileinrichtungen aufweist und diese dem jeweils für sie aufgestellten technischen Ausbauprogramm entsprechen (vgl. nur BVerwG, Urteil vom 10. Oktober 1995 - 8 C 13.94 - BVerwGE 99, 308 <313>). Die vollständige Umsetzung des gemeindlichen Bauprogramms und des technischen Ausbauprogramms ist eine Voraussetzung, die in tatsächlicher Hinsicht vorliegen muss, damit die Erschließungsanlage endgültig hergestellt und der durch sie vermittelte Vorteil tatsächlich vollumfänglich nutzbar ist. Vor diesem Hintergrund ist es sachgerecht, dass die Rechtsprechung auch den Eintritt der für die zeitliche Begrenzung der Beitragserhebung relevanten Vorteilslage davon abhängig macht.“ (Rn. 34) 

Damit fasst das Bundesverwaltungsgericht die wesentlichen Rahmenbedingungen für das Vorliegen einer Vorteilslage kompakt zusammen. Diese Grundsätze erfahren dann eine Einschränkung, wenn das Bauprogramm über lange Zeit nicht angepasst wurde: 

„Der Überlegung, dass die Vorteilslage erst mit der vollständigen Umsetzung des gemeindlichen Bauprogramms eintritt, liegt die Erwartung zugrunde, dass bei etwaigen Abweichungen vom Bauprogramm grundsätzlich noch mit dessen zukünftiger Verwirklichung durch entsprechende Anpassung der tatsächlichen Verhältnisse an die Planung zu rechnen und der abweichende Zustand der Erschließungsanlage insoweit nur vorübergehender Natur ist. Anders liegt der Fall, wenn aufgrund des langen Zeitablaufs feststeht, dass mit einer Änderung nicht mehr gerechnet werden kann. In diesem Fall wächst die zunächst nur teilweise, unvollständig oder in anderer Weise planabweichend hergestellte Anlage in eine selbständige Erschließungsanlage hinein. In der Rechtsprechung des Bundesverwaltungsgerichts ist anerkannt, dass beitragsfähige Erschließungsanlage die Anlage in ihrem tatsächlich angelegten Umfang ist; maßgebend für die Bestimmung der Erschließungsanlage ist das durch die tatsächlichen Gegebenheiten geprägte Erscheinungsbild, nicht aber eine nur "auf dem Papier" stehende planerische Festsetzung (vgl. BVerwG, Urteile vom 15. Februar 1991 - 8 C 56.89 - BVerwGE 88, 53 <55 f.> und vom 25. Februar 1994 - 8 C 14.92 - BVerwGE 95, 176 <185>). Der Umstand, dass eine Anlage über viele Jahre nicht weitergebaut wird, kann den Schluss rechtfertigen, dass die seinerzeitigen Ausbauarbeiten endgültig beendet worden sind (vgl. BVerwG, Urteile vom 12. Mai 2016 - 9 C 11.15 - BVerwGE 155, 171 Rn. 28, vom 22. November 2016 - 9 C 25.15 - BVerwGE 156, 326 Rn. 26 und vom 7. März 2017 - 9 C 20.15 - BVerwGE 158, 163 Rn. 14). Dass in einem solchen Fall die Vorteilslage trotz Abweichung vom ursprünglichen Bauprogramm eintreten kann, hat auch das Bundesverfassungsgericht anerkannt (BVerfG, Beschluss vom 3. November 2021 - 1 BvL 1/19 - BVerfGE 159, 183 Rn. 75). Maßgebend für diese Fallkonstellation ist, dass das ursprüngliche Bauprogramm tatsächlich aufgegeben worden ist. Der Beschluss, mit dem die Planung an den vorhandenen Zustand angepasst wird, vollzieht dann nur noch zum Zweck der Abrechenbarkeit die bereits abgeschlossene tatsächliche Entwicklung nach und bildet den rechtlichen Schlusspunkt.“ (Rn. 35) 

Abschließend befasst sich das Bundesverwaltungsgericht noch mit der Auslegung des einschlägigen Landesrechts betreffend eine Erstattung bei fiktiver Abrechnung (Rn. 39 ff.).  

Unsere Hinweise: 

In Ihrem Matloch/Wiens finden Sie weiterführende Erläuterungen zur Vorteilslage als Anknüpfungspunkt für die 20-jährige Ausschlussfrist (Rn. 440, 2164e) und zur erstmaligen technischen Herstellung (Rn. 2143, 440).


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